Engagement_01
Christine Nöstlinger über Christine Nöstlinger und über die Bemerkung, dass sie vielen als moralische Instanz gilt:
„Es tut mir leid, ich kann nix dafür. Und ich weiß auch gar nicht, wann das passiert ist. Vor vierzig Jahren hab’ ich als unmoralische Instanz gegolten.“
Kurier, 14.05.2017
Kinder ernst nehmen
„Ein Kind hat für alles, was es tut, und möge es uns Erwachsenen auch noch so absurd erscheinen, so abwegig und irrational, einen guten Grund! Und lassen wir doch für den Anfang zu, dass wir von diesen guten Gründen nichts verstehen.
Bei so vielen Dingen im Leben sagen wir: Davon verstehe ich nichts, davon lasse ich lieber die Finger!
Lassen wir also auch die Finger von den Kindern, die wir nicht verstehen! Aus der Einsicht, nicht zu verstehen, könnte mit der Zeit Neugier und Lernwilligkeit entstehen. Schauen und hören wir einfach den Kindern beim Leben zu. Sie versuchen ja ohnehin mit aller Kraft, uns mit ihrer Art zu denken und zu fühlen vertraut zu machen. Sie erfinden Geschichten für uns, sie spielen uns vor, sie sind unermüdlich bemüht, uns Einblick in ihr Denken und Fühlen zu geben.
Würden wir uns nur ein Zehntel der Mühe geben, die sich die Kinder mit uns machen, müßte es doch möglich sein, wenigstens soviel Einblick und Einsicht zu bekommen, dass wir nicht unentwegt gegen die Interessen von Kindern verstoßen und sie vor Schaden bewahren könnten.”
Aus: Jeder hat seine Geschichte, Vorlesung an der Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt,1992, Seite 17
Engagement_03 Nicht besonders kinderlieb
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Ein Manifest der Empathie. Viel bekannter und öfter zitiert als diese Passage aus der Rede 1992 wurde jedoch ein von Christine später geäußerter Satz: „Ich bin nicht besonders kinderlieb.“
Viele fanden es kurios, dass dieser Satz ausgerechnet aus dem Mund einer so bekannten Kinderbuchautorin kam. Christine sagte dabei allerdings noch etwas:
„Ich bin nicht besonders kinderlieb. Ich bin menschenlieb.“
willkommen österreich, 29.10.2013
Menschenlieb
Für Christine waren Kinder zunächst Menschen, die wie alle anderen ein Recht darauf haben, menschenlieb behandelt zu werden. Erwachsene oder Kinder, Frauen oder Männer, BioösterreicherInnen oder MigrantInnen – sie fand, man solle jedem mit demselben Respekt und mit derselben Neugier begegnen.
Das „Zehntel der Mühe“, das sie von Erwachsenen 1992 in ihrer Rede gegenüber Kindern einforderte, forderte sie auch von Einheimischen gegenüber geflüchteten Menschen, von Wohlsituierten gegenüber Armen, von Männern gegenüber Frauen.
In Christines Weltsicht war Empathie im Umgang miteinander jedoch keineswegs nur eine moralische, sondern eine politische Kategorie.
engagement_04_menschenrechte
In ihren Interviews, Artikeln und Reden ist zu spüren, wie wichtig ihr die Menschenrechte und die Ideen der Aufklärung waren, was sie auch explizit sagte (auf die Frage: „Wo haben Sie Trost gefunden – in der Kirche?“):
„Ich bin so was von kirchenfern. Die Werte, die mir heilig sind, haben wir seit der Aufklärung. Die reichen mir.“
„... es geht nicht nur um Gerechtigkeit, sondern vor allem auch um Solidarität. Mir geht es um eine Aufforderung zur Empathie und dass man sich in fremde Menschen einfühlt.“
Humor und ein langes Leben: Christine Nöstlinger im Interview, Tiroler Tagesspiegel, 24.10.2016
Ihr politisches Engagement, ihr Werk und ihre Statements zu Kindern und zur Kinderliteratur sind am besten in diesem Kontext zu verstehen.
Keine Pädagogikpillen
Christine versuchte in ihren Büchern nie, Kinder zu erziehen. Überhaupt fand sie, dass die Vorstellungen von Erwachsenen, wie Kinder zu funktionieren hätten, in Kinderbüchern und in der Pädagogik nichts verloren haben.
„Würde ich um Erziehungsratschläge gefragt, würde ich das strikt ablehnen. Ich bin Schriftstellerin und nicht Pädagogin.“
engagement_05 Gutachter
Als Christine zu schreiben begann, waren die meisten mit Kinderbüchern befassten Erwachsenen der Ansicht, dass vor allem der „erzieherische Gehalt“ die Güte eines Buches ausmache.
Ihr ersten Bücher wurden geprüft und für schlecht befunden:
„Kinderbücher wurden ja nicht so wie Erwachsenen-Literatur ‚besprochen‘, sondern auf ihre pädagogische Eignung hin ‚begutachtet‘. Und abschließend auf einer Skala von ‚sehr empfehlenswert‘ bis ‚abzulehnen‘ eingestuft. Die Gutachter waren üblicherweise Lehrer und Bibliothekare.
Das ergab manchmal wundersame Köstlichkeiten. Da schrieb etwa ein Bibliothekar über mein Büchlein, in dem der Fleischhauer-Papa jeden Tag zum Gabelfrühstück ein Seidel Bier trinkt, lapidar: ‚Dieses Buch ist abzulehnen, weil darin Bier getrunken wird.‘
Und dann folgte drei Zeilen lang die Auflistung aller Seiten, auf denen der Fleischhauer sein Seidel hebt.“
engagement_06 keine Grenzen
Christine – wie in den 1970er-Jahren viele Autoren und Autorinnen – wollte keine Bücher schreiben, keine „Pädagogikpillen, eingewickelt in Unterhaltungspapier“, wie sie oft sagte.
Später meinte Christine, dass sich ihre Ansicht darüber, wie viel Aufforderung zur Aufmüpfigkeit Kindern im Leben wie in Büchern zumutbar sei, mit den Jahren geändert hätte. Ihre Überzeugung, dass man Kinder möglichst wenig einschränken soll, änderte sie jedoch nie.
„Ich kann es auch nicht leiden, wenn es immer heißt: Man muss Kindern Grenzen setzen. Man setzt Kindern notgedrungen ohnehin viele Grenzen: Sie müssen in die Schule gehen, sie müssen Medizin schlucken, wenn sie krank sind, sie müssen mit den ökonomischen Bedingungen ihrer Eltern auskommen. Extra noch weitere Grenzen zu setzen, muss nicht sein.“
Ich bin in der Wolle rot gefärbt, Profil, 7.8.2010
Auch dies ist nicht als pädagogischer Ratschlag zu lesen. Sie wollte, entsprechend ihrer humanistischen und emanzipatorischen Grundhaltung, dass weder Kindern noch Erwachsenen mehr Grenzen als nötig gesetzt werden:
„Ich will niemanden zu etwas zwingen und ich will mich zu nichts zwingen lassen.“
Das Sein bestimmt das Bewusstsein
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„ … aber ich glaube halt immer noch, dass das Sein das Bewusstsein bestimmt. Und wenn ein Kind in Umständen lebt, wo es nie gelernt hat, Empathie zu empfinden, dann bringt auch ein Buch das dem Kind nicht bei.“
Video „Im Gespräch: Christine Nöstlinger“, 3.2.2016
Kinder sind – als von Erwachsenen abhängige Menschen – ganz besonders davon betroffen, in welchen sozialen und ökonomischen Umständen sie leben.
engagement_08 Schwachstellen und Schattenseiten
Die Schwachstellen und Schattenseiten der Gegenwart sah Christine immer differenziert. Auf die Frage, ob es Kindern heute besser oder schlechter als vor 30 Jahren gehe, antwortete sie:
„So wie im Ökonomischen die Schere immer mehr zwischen Arm und Reich aufgeht, so ist das heute in vieler Hinsicht bei den Kindern. Es gibt eine Gruppe von halbwegs gut verdienenden, gebildeten Eltern. Deren Kindern geht’s hervorragend ... Aber dann gibt es Kinder, denen es unheimlich dreckig geht. Viele Sachen haben sie zwar – zwanzig Barbiepuppen aus China und einen eigenen Fernsehapparat im Zimmer. Aber es schert sich keiner um sie.“
Ich bin eine heitere Pessimistin, Kurier, 23.9.2013
Christine verurteilte jedoch Eltern, die sich nicht um ihre Kinder „scheren“, nicht pauschal. Auch „sich scheren können“ hänge von der ökonomischen Situation, der Bildung und dem sozialen Umfeld ab.
„Es ist ja ein großer Unterschied, wie die Billa-Kassiererin ihre Kinder sieht – die wird sie wahrscheinlich auch zu einem Großteil als Last und als lebenshindernd sehen, auch wenn sie sie liebt und alles für sie tut – und wie irgend so eine im Wohlstand lebende Tussi [ihre Kinder sieht, Anm.], die Helikopter-Mama spielt und das Kind mit vier Jahren zum Chinesisch-Kurs und zum Ballett-Tanzen bringt. ... Zwischen diesen zwei Müttern und ihren Vorstellungen von Mutter-Sein gibt es ja einen riesigen Unterschied.“
Das Sein bestimmt das Lesen
„Ich bin dafür, einem Kind so weit wie möglich die Wahrheit zu erzählen – in einer Sprache, die es begreifen kann.“
Humor und ein langes Leben: Christine Nöstlinger im Interview, Tiroler Tagesspiegel, 24.10.2016
Für Christine war die Sprache ihr wichtigstes Instrument. Welche Sprache ein Kind beim Lesen begreifen kann, hatte immer schon viel damit zu tun, wieviel Eltern selber lesen und ob sie Zeit und Geduld für Kind und Bücher haben. Die Möglichkeiten von Kindern, sich selbst zu beschäftigen, veränderten sich jedoch mit der Zeit, und Christine war der Meinung, dass dies zum Teil auch die Phantasie der Kinder verändert habe:
„Ich glaube, dass man, um zu lesen, eine andere Phantasie braucht, als manche Kinder heute entwickeln. … Es mag Ausnahmen geben, aber wenn sie [die Kinder, Anm.] nicht die Phantasie haben, dass sich beim Lesen sofort zu den Wörtern Bilder einstellen, dann kann man einem Kind nicht beibringen, dass es lesen soll. ... Wenn aber Kinder nur mit Bildern aufwachsen, und das tun Kinder bildungsferner Schichten, können sie sich zu den gelesenen Wörtern keine Bilder mehr vorstellen. … Gerade diese Kinder haben unheimlich viel Lebenserfahrung, und wenn sie dann ein Buch lesen, mit lauter einfachen Fünf-Wort-Satzerln, also etwas, was sie lesen können, dann sind das ja nicht die Geschichten, die sie interessieren.“
engagement_10 neue kinderbücher
Gerne wurde Christines Satz zitiert, dass sie junge Menschen, die ständig auf ihre Smartphones starren und darauf herumwischen, nicht mehr verstünde. Sie hatte allerdings keineswegs eine ablehnende Haltung heutigen Jugendlichen gegenüber, sondern vielmehr die Einsicht, dass sie selbst als Schriftstellerin diese Welt nicht mehr so exakt beschreiben konnte, wie sie es für notwendig hielt.
„Aber die [Bücher, Anm.] müssten dann jüngere Leute schreiben. Und vielleicht muss man das heute ganz anders machen. Das geht dann vielleicht – wenn es geht – in den sozialen Netzwerken vor sich und nicht mehr auf Papier.“
Meine Enkelin speit, wenn sie zur Schule muss, Tagesspiegel, 27.1.2013
„Ich fände es dringend nötig, dass man Kinderbücher macht, in denen Kinder mit Migrationshintergrund die Helden sind. Aber ich kann sie nicht schreiben. Kinder wollen sich immer in den Helden hineinversetzen, in seine Gedanken und Gefühle, das wollen sie alles erklärt kriegen. Das kann ich nicht bei einem Migrantenkind.“
Kommerzialisierung der Literatur
Dass es Kinderbücher mit diesem Anspruch nicht haufenweise gibt, lag für Christine an der immer stärkeren Kommerzialisierung der Literatur, am schwindenden Interesse, über Kinderliteratur nachzudenken und an der Tendenz, vor allem Inhalte zu verlegen, die sicheren Absatz garantieren.
„Man braucht neue Kinderbücher, hieß es [als Christine zu schreiben begann, Anm.], man muss die Kinder anders erziehen – oder gar nicht erziehen. […] Um diese Debatten schert sich heute kein Mensch. Heute ist ein gutes Kinderbuch eines, das sich gut verkauft. [...] Früher wurden Bücher, die einen Preis bekommen haben, noch von der öffentlichen Hand für Bibliotheken gekauft. Aber dafür ist heut' kein Geld mehr da.“
Christine Nöstlinger wehrt sich gegen Textänderungen, Kurier, 21.2.2013
Foto: etwa 1977, Christine mit Hans-Jochen Gelberg und MitarbeiterInnen im Verlag: Bücher wurden mit Sorgfalt und in offener Diskussion verlegt.
Das wird sich so schnell nicht mehr ändern
Die Kommerzialisierung der Kinder- und Jugendliteratur wiederum war für Christine nur ein Aspekt einer allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung der letzten Jahrzehnte, in denen wirtschaftliche Zwänge den gesellschaftlichen und politischen Spielraum immer mehr einengten. Christine war als politischer Mensch eine sehr genaue Beobachterin dieser Entwicklung und was sie sah, gefiel ihr nicht.
„Traurig find ich halt, dass ich ganz sicher weiß, dass sich die paar Jahre, die ich, wenn’s hochkommt, noch zu leben habe, nicht mehr viel ändern wird. Dabei wäre ich gern zufrieden ins Grab gesunken und hätte mir gedacht: So, diese Welt ist auf dem Weg zum Guten, Schönen und Wahren hin. Wär schön gewesen, aber das ist nicht so.“
Quelle: „Hören S’ endlich auf damit!“
Trotzdem hat sie weder ihre aufklärerische Haltung noch ihr praktisches Engagement aufgegeben.
So engagierte sie sich zum Beispiel als Vorsitzende der Menschenrechtsorganisation SOS Mitmensch (1997–1999) für Menschenrechte und für eine Welt, in der Gerechtigkeit, Fairness und Integration möglich sind. Sie fand aber immer öfter, dass in Fragen, die ihr besonders wichtig waren, zu wenig Fortschritte gemacht wurden.
Bildung
Bildung war für Christine eines dieser zentralen Themen, die ihr besonders am Herzen lagen. Denn Bildung macht Kinder zu selbstständig denkenden und empathisch fühlenden Erwachsenen. Die Schule spielte für sie dabei eine wichtige Rolle, kann sie doch als gesellschaftliche Institution unterschiedlich gute Voraussetzungen der Kinder ausgleichen.
„Aber wenn man für Chancengleichheit ist, muss man für die Gesamtschule sein, auch per Gesetz. Aber mit dem nötigen Geld und Know-how. Einfach zu beschließen, dass jetzt Gesamtschule ist, das ist zu wenig“
Die viel bemühte „Wahlfreiheit der Schulform“, die angeblich durch eine gesetzlich verankerte Gesamtschule verloren ginge, hielt sie für ein Argument jener, die gar keine Chancengleichheit wollen.
„Die Kinder haben ja nicht die Wahlfreiheit, die Wahlfreiheit haben die Eltern. Und wenn ich als 10-Jährige aussortiert werde, bin ich hilflos.“
Kinder, Schule, Kreisky, vida, 11.1.2011
Schon in den 1970er-Jahren wurden eine grundlegende Schulreform und eine achtjährige Gesamtschule als Basis jeder wirklichen Chancengleichheit gefordert. Christine konstatierte 40 Jahre später:
„Ich hab das reinste Déjà-Vu. Ich komm’ mir vor, wie in den siebziger Jahren. Die gleiche Debatte, die gleichen Schulversuche, die gleichen konservativen Gegenstimmen, das gleiche Nicht-Durchsetzen-können. Das hab ich alles vor vierzig Jahren schon gehört. Damals hätt' ich nicht gedacht, dass ich das 40 Jahre später wieder höre.“
Ich bin eine heitere Pessimistin, Kurier, 23.9.2013
„Ich kann mir das nur so erklären, dass gewisse Schichten, die ihre Kinder ins Gymnasium schicken, und sei es mit viel Nachhilfe, nicht wollen, dass die Kinder der Unterschicht die gleichen Chancen haben. In den Ländern, wo es mehr Chancengleichheit gibt, existiert auch die Gesamtschule.“
Die Gleichberechtigung der Frauen
Christine war Hausfrau und Mutter in einer Zeit, als Männer noch bestimmen konnten, ob die Ehefrau arbeiten gehen durfte oder nicht.
„Damals war noch nicht einmal die Familienrechtsreform da. Da hätte mir mein Mann verbieten können, zu arbeiten. Man brauchte seine Genehmigung. Ich kannte eine ledige Mutter. Als sie mit ihrem Kind nach Italien fahren wollte, musste sie noch zur Obervormundschaft gehen, damit das Kind einen Pass bekommt. Eine Frau allein, ganz ohne Oberaufsicht, der wollte man damals kein Kind anvertrauen. Da kann man wirklich nicht sagen, dass die Zustände damals besser waren.“
Ein Buch braucht kein happy end, kontrast.at, 13.7.2018
Sie selbst steckte unfreiwillig und unzufrieden ein Jahrzehnt ausschließlich in der Rolle der Hausfrau und Mutter, später erledigte sie Haushalt und Kinderbetreuung neben dem Schreiben. Das Verhalten der „linken und aufgeklärten Männer“ beschrieb sie so:
„Und die meisten Väter der späten Siebziger- und der frühen Achtzigerjahre spielten daheim kaum mehr als den ,netten Onkel‘ und überließen die Aufzucht des Nachwuchses der Ehefrau, ob nun berufstätig oder nicht.
Einer dieser netten Onkel, nämlich mein Ehemann, erklärte mir sein ,Raushalten‘ damit, dass er einfach nicht weiß, wie ,Vater sein‘ geht. Er weiß bloß, dass er auf keinen Fall ein Vater wie sein eigener sein will. Und wer nichts tut, kann auch nichts falsch machen.
Ich wollte zwar auch keine Mutter wie meine eigene sein und wusste genau so wenig, wie ,Mutter sein geht‘, aber da rundherum in allen Familien, die ich näher kannte, die Frauen für die Kinder zuständig waren, protestierte ich nicht.“
Quelle: Rede auf der internationalen Jugendbuchtagung, ca. 1980
Gleichberechtigung der Frauen Teil2
Erst in den 1970er-Jahren schuf die Familien- und Strafrechtsreform in Österreich die rechtlichen Voraussetzungen für die Gleichstellung der Frau. Johanna Dohnal, ab 1979 Staatssekretärin und ab 1990 Bundesministerin für Frauenfragen, betrieb die Gleichstellungspolitik konsequent weiter. Auf einer Kundgebung im Gedenken an Johanna Dohnal im Jahr 2010 sagte Christine:
„Die Johanna war gewiss ein Glücksfall für die Frauen in unserem Land, denn sie war, was selten passiert, die am besten geeignete Person für den Job, den sie machte. Sie erreichte das Optimum dessen, was in den Jahren ihrer politischen Tätigkeit rauszuholen war. Man könnte aber auch sagen: Was den damals mächtigen Männern abzuringen war. Und daran, dass ihnen allerhand abzuringen war – und das wollen wir nicht vergessen –, hatten die autonomen Frauenbewegungen der 70er-Jahre großen Anteil. Die gaben der Johanna Rückenwind.“
Die Gleichberechtigung der Frauen Teil3
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In Christines Augen hatte sich jedoch seit den 1990er-Jahren wenig an den Machtverhältnissen zwischen Frau und Mann geändert:
„Ich höre jetzt seit zwanzig Jahren jeden Frauentag dasselbe und es hat sich nichts verändert. Ich höre, dass der Unterschied in der Bezahlung zwischen Männern und Frauen 21 Prozent ist. Ich höre, dass es nach Abrechnung der Teilzeitarbeit immer noch 17 Prozent ist. Dass wir damit an vorletzter oder drittletzter Stelle in der EU vor Estland und sonst irgendwem liegen.“
Girls are strong, matschbanana, 13.7.2017
„Frauen haben immer noch die größere Last zu tragen. Ich glaube eher, dass es einen gewissen Rückschritt gibt, und zwar auch von den Frauen selbst. Die jüngere Frauengeneration meint, Emanzipation wäre nicht mehr nötig, weil schon alles erreicht ist. Dabei haben sie gar nichts erreicht.“
Ich möchte ewig leben, News, 13.10.2016
„Es sind Generationen von Frauen nachgewachsen, die sich nicht mehr um Feminismus scheren.”
Frauentag: Warum so viele Frauen Feminismus falsch verstehen, miss.at
Und auf die Frage, warum das so sei, antwortete sie:
„Naja, jetzt könnte man sehr simpel sagen: Immer gibt es Menschen, die sich lieber mit den Mächtigen verbinden, als mit den Machtlosen. Und da die Männer noch immer die Mächtigen in unserer Gesellschaft sind, haut man sich halt auf Seite der Männer. Oft ist es auch totale Dummheit.“
Christine Nöstlinger: „Ich war kein Mamakind“, Kurier, 14.5.2017
Flucht und Migration
Christine engagierte sich privat und öffentlich für Geflüchtete und Menschen mit Migrationshintergrund. Sie war gemeinsam mit Ursula Pasterk Patin eines jugendlichen Flüchtlings, sie spendete an Organisationen, die Flüchtlinge betreuen, und übernahm die Schirmherrschaft über Hilfsaktionen.
2016 hielt sie die Laudatio für Angelika Schwarzmann bei der Vergabe des Ute-Bock-Preises für Zivilcourage, den diese für den erfolgreichen Widerstand gegen die Abschiebung von syrischen Flüchtlingen nach Ungarn erhalten hatte. 2017 spendete sie der Organisation Hemayat, einem Betreuungszentrum für Folter- und Kriegsüberlebende, ein persönliches Dialektgedicht, das man ersteigern konnte.
Christine wollte – im Rahmen ihrer Möglichkeiten – gegen Fremdenfeindlichkeit auftreten.
„Es ist ein statistisch belegtes Phänomen, dass die Fremdenfeindlichkeit dort am größten ist, wo es die wenigsten Fremden gibt. Siehe deutsche Bundesländer im Osten, die haben knapp zwei Prozent Fremde. Kein Grund für echte Ängste! […] Ich vermute, dass die Menschen heute viele andere Ängste haben, die sie an den Flüchtlingen festmachen.“
Keiner hat das Recht zu gehorchen, Kleine Zeitung, 13.7.2018
Das Ressentiment gegen Geflüchtete und Menschen mit Migrationshintergrund, das nach der sogenannten „Flüchtlingskrise“ 2015 gesellschaftlich immer mehr akzeptiert wurde, erklärte sie so:
„Das ist todtraurig, aber es ist so: Immer wenn die Zeiten schlechter werden, tendieren die Menschen nach rechts und nicht nach links. Kann ich nicht ändern, aber so ist es. [….] Weil das Leben ziemlich kompliziert ist und für viele Menschen nicht sehr durchschaubar. Und weil man dann immer zu den simpelsten und einfachsten Schlagworten und Lösungen greift. Ich habe eine Freundin, die ist Bewährungshelferin, die betreut Inländer, die in ihrem Leben überhaupt noch keinen Strich gearbeitet haben. Und die schimpfen auf Ausländer und sagen: ,Die nehmen uns die Arbeit weg‘. Wenn sie dann sagt: Du Trottel, hast du schon einmal was gearbeitet, dann sagt der: Nein, aber wenn die nicht wären, dann tät ich.“
Die Linken haben das nicht geschafft, progress, 13.7.2012
„Es hat gewiss etwas mit dem Turbokapitalismus zu tun, dass sich Menschen abgehängt fühlen, sich hint’ und vorn nicht mehr auskennen und deshalb jemanden suchen, der ihnen einfache Lösungen anbietet, selbst wenn’s die falschen sind.“
Keiner hat das Recht zu gehorchen, Kleine Zeitung, 13.7.2018
Christine wunderte sich im Alter dennoch oft darüber, wie Menschen denken und argumentieren:
„Von 1970 an hat die untere Mittelschicht stets dazugewonnen. In den letzten fünf Jahren geht es für diese Gruppe nicht mehr bergauf. Aber die fehlende Empathie für Menschen, die noch weniger haben, die wundert mich doch sehr.“
Keiner hat das Recht zu gehorchen, Kleine Zeitung, 13.7.2018
Noch mehr wunderte sie sich aber über die Migrationspolitik im Jahre 2018:
„Eine richtige Wut kann ich noch bekommen, wenn es um Flüchtlinge geht. Unser Bundeskanzler stellt sich hin und sagt, wir müssen helfen, dort wo sie herkommen. Und Österreich gehört zu den Ländern, die am wenigsten an die UNO für Entwicklungshilfe zahlen. Und das weiß er. Das UNO-Flüchtlingswerk fordert jedes Jahr Geld von Österreich. Und wir bezahlen es nicht. Das ist doch Lug und Betrug.“
Ein Buch braucht kein happy end, kontrast.at, 13.7.2018
Obwohl sie sich der Mechanismen, die zum Rechtsruck der letzten Jahre geführt hatten, bewusst war, waren diese für sie aber keine Entschuldigung:
„Ich frag mich oft, wie blöd darf man sein? Dauernd muss ich Verständnis haben, für die Sorgen der Menschen. Meistens informieren sich diese Menschen nicht, schauen nicht einmal Zeit im Bild. Es gibt doch bitteschön auch gegenüber der Gesellschaft eine gewisse Bringschuld, man muss sich informieren.“
Ein Buch braucht kein happy end, kontrast.at, 13.7.2018
Christine war bewusst, dass sie als eine der bekanntesten Kinderbuchautorinnen im deutschsprachigen Raum ein privilegiertes Leben führten konnte. Gerade darum hielt sie es für selbstverständlich, anderen Menschen zu helfen. Sie sah ein, dass andere, denen es schlechter geht, oft weniger gut helfen können. Nicht-helfen-können war ihrer Meinung nach aber noch weit von Ablehnung und Fremdenfeindlichkeit entfernt. Letztere könnten weder durch die ökonomischen Verhältnisse noch durch fehlende Bildung vollständig erklärt werden:
„So schlecht geht es den Menschen nicht, dass man es mit den Verhältnissen, in denen sie leben, erklären könnte. Man kann Hunderte Gründe anführen, aber langsam denke ich mir, dass das immer in den Menschen drin gesteckt ist, aber sie es nie so leicht artikulieren konnten. Bis man einen Leserbrief schreibt, dauert es. Im Internet braucht man nur seine zwei dicken Wurstfinger.“
Kinder wären arm, wenn sie nur meine Bücher hätten, Tiroler Tageszeitung, 28.9.2016
In der Wolle rot gefärbt
Aufgewachsen in einer durch und durch sozialistischen Familie, fand sie, dass sich die Sozialdemokratie viel zu sehr mit wachsenden Ungleichheiten abfand und oft sogar rechte Positionen übernahm.
„Naja, der durchschnittliche Strache-Wähler in Wien ist vom durchschnittlichen SPÖ-Wähler nicht so weit entfernt. Darum verhalten sich die Roten ja wie sie sich verhalten. Nur ist das auch keine Lösung. […]“
Frage: Bringen Sie Verständnis für die heutigen sozialdemokratischen Führungsfiguren auf, wenn sie mit den rechten Wölfen heulen?
„Nein, dafür bringe ich kein Verständnis auf. Ich meine, es ist ja lächerlich, da gibt es den alten Satz: Man geht nicht zum Schmiedl, wenn man zum Schmied gehen kann. Das alles, wo sich die SPÖ anpasst, kann die FPÖ wesentlich besser.“
Frage: Kurzum, die SPÖ sollte nach Links rücken?
„Ja, das wäre nett.“
Die Linken haben das nicht geschafft, progress, 13.7.2012
Christine blieb trotz ihrer Kritik der Sozialdemokratie immer treu. Sie war nie Mitglied der SPÖ, wählte aber immer sozialdemokratisch und war Mitglied mehrerer Personenkommitees für sozialdemokratische Kandidaten.
Die Tuchent der Zivilisation
Christine verglich die Aufbruchstimmung der 1970er-Jahre häufig mit dem herrschenden Zeitgeist und befand, dass die Gesellschaft wieder unfreier und undemokratischer wurde. Die wachsende Zustimmung zu autoritären und reaktionären Parteien fand sie schrecklich.
„Sie [rechte Parteien, Anm.] nehmen mir Freiheit weg, sie nehmen mir die Vorstellung für Chancengleichheit für alle weg. Und ich mag sie nicht, weil sie alle zum Faschismus tendieren.“
Keiner hat das Recht zu gehorchen, Kleine Zeitung, 13.7.2018
Die Tuchent der Zivilisation Teil2
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„Für mich ist das einfach unfassbar, dass jetzt überall in Ministerien und sonst wo an hohen Stellen Burschenschaften von schlagenden Verbindungen sitzen. Wie es bei denen zugeht, weiß man ja. Ist ja auch schon irgendwie sehr öffentlich geworden. Die sitzen jetzt überall. Selbst wenn bei den nächsten Wahlen diese Regierung nicht mehr möglich ist, diese Leute sitzen dort. Bis man die wieder los wird… da müssen sie schon in Pension gehen. Das lässt sich nicht plötzlich ändern.“
Ein Buch braucht kein happy end, kontrast.at, 13.7.2018
Sie sah durchaus Parallelen mit der Zwischenkriegszeit, als Ständestaat und Austrofaschismus zur Nazi-Diktatur führten.
„Vorher im Austrofaschismus hat ja auch faktisch niemand mehr aufbegehrt. Man ist ja nicht in die Nazi-Zeit von einer Demokratie eingetreten. Es war schon vorher nicht viel anders. Es war nicht mit KZs, aber ansonsten war kein Hauch von Demokratie mehr von '34 an, nehme ich an.“
Die Tuchent der Zivilisation Teil3
Christine wuchs im Österreich der Nazi-Diktatur auf und wusste daher, wie leicht Leute unmenschlich werden können:
„Wenn wir über '38 reden. Wir haben ja auch die krassesten Nazis gehabt, in Österreich. Unverhältnismäßig viele KZ-Aufseher kamen aus Österreich. Der Judenhass in Österreich war mindestens so groß wie anderswo.“
Ein Buch braucht kein happy end, kontrast.at, 13.7.2018
Eine demokratische, solidarische Gesellschaft war für Christine eine zivilisatorische Errungenschaft, die gehegt und gepflegt werden muss:
„Ich bin ja in der Nazi-Zeit groß geworden. Also nicht ‚groß‘… Gelebt hab‘ ich während der Nazi-Zeit. Ich weiß also, wie leicht die Leute böse und unmenschlich werden können. Das geht über Nacht, bitte. Diese ‚Tuchent der Zivilisation‘ scheint mir sehr löchrig und leicht wegzuziehen zu sein. Wer hegt und pflegt sie denn?“
Ein Buch braucht kein happy end, kontrast.at, 13.7.2018
Dass sie von einer solchen Pflege in ihren letzten Lebensjahren wenig bemerkte, ließ sie im Alter resignieren:
„Ich bin nicht wütend, man kann ja auch nicht sein ganzes Leben lang wütend sein. Ich war nie eine sehr wütende Person. Ich bin eher resigniert. Ich bin eher traurig. So habe ich mir nicht vorgestellt, dass es zu meinem Lebensende aussehen wird. Wenn man heute sehr jung ist, kann man noch hoffen, dass es irgendwann anders ist.“
Gedenkveranstaltung zum 70. Jahrestag der Befreiung des KZ Mauthausen
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Am 5. Mai 2015 durfte Christine anlässslich der Gedenkveranstaltung zum 70. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Mauthausen im Historischen Sitzungssaals des österreichischen Parlaments sprechen: eine Rede gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit.
Interviews und Gespräche mit Christine
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Interview im Falter, 13.10.2016
Ein Gespräch über ihre Politisierung, ihre Abneigung gegen Erziehung, die „Heitler!“-Rufe in Hernals und die Political Correctness in Kinderbüchern – Florian Klenk, Stefanie Panzenböck
Das ganze Interview zum Lesen:
Der Traum von Schinkensemmel, Bensdorp und Sozialdemokratie
WildUrb
Jine Knapp im Interview mit Kinderbuchautorin Christine Nöstlinger, 2013
Interview beginnt bei Minute 4:42
Jine Knapp besucht gemeinsam mit Doris Rittberger die Kinderbuchautorin Christine Nöstlinger. Die beiden erfüllen sich damit einen Kindheitstraum.
Engagement_Videoblock2
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Sabine Oberhauser und Christine Nöstlinger teilen sich eine Brille
Das Interview zum Nachlesen im Standard:
Nöstlinger: „Nicht alles, was mir nicht gefällt, kann ich verbieten“
willkommen österreich 1.1.2010
„Kleine Kinder liegen mir nicht sehr am Herzen“, zeigt sich Kinder- und Jugendbuchautorin Christine Nöstlinger in Willkommen Österreich ganz offen. Obwohl sie selbst „zwei Stück“ groß gezogen hat: „Ich habe immer darauf gewartet, dass sie größer werden und sagen können, was sie wollen.“ Stermann will mehr über das Schimpfwort-Repertoire im Hause Nöstlinger wissen. Grissemann teilt mit der Autorin die Leidenschaft für „vertrottelte Fernsehsendungen“.
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Leselounge: Christine Nöstlinger im Interview mit Günter Kaindlstorfer, 19.05.2014
Christine Nöstlinger spricht im Interview über Glück, ihre Kindheit, das Erzählen und das Lesen.
Mit Künstlern auf du und du - Gerhard Blaboll und Christine Nöstlinger (#160), 28.04.2014
Was sie über die Verwendung des Dialekts denkt, über politische Korrektheit von Worten sowie die Entwicklung der Sprache, erzählt sie sehr offenherzig.